Rico Chandra ist Experte beim Aufspüren von radiologischen Bedrohungen. Auch in der Ukraine gibt es Tausende radioaktive Materialien. Diese könnten für schmutzige Bomben missbraucht werden, befürchtet er.
von Andreas Bättig
Herr Chandra, wie besorgt sind Sie als Experte für radiologische Bedrohungen über den Krieg in der Ukraine?
Sorgen mache ich mir darüber, dass es in der Ukraine fast 25’000 radioaktive Quellen gibt. Radioaktive Quellen sind Materialien, deren Zweck es ist, radioaktiv zu sein. Diese Quellen waren zu Beginn des Konflikts unter Kontrolle der Ukraine. Sie könnten nun in falsche Hände geraten.
Was sind das für Materialien?
Dabei kann es sich zum Beispiel um Bestandteile von Geräten handeln, die zum Bestrahlen von Tumoren, zur Sterilisierung von Instrumenten oder zum Röntgen verwendet werden. Dazu kommen noch hochradioaktive Abfallprodukte aus der Kernenergie.
Welche radioaktiven Substanzen sind darin enthalten?
Häufig Kobalt-60 (Co-60) oder Cäsium (Cs-137) in Form von Cäsiumchlorid (CsCl). Letzteres ist besonders problematisch, da es ein Salz ist und häufig in Pulverform anzutreffen ist. Wenn ein solches Pulver beispielsweise einer Briefsendung an Politiker beigelegt oder wenn es in einer U-Bahn-Station verstäubt würde, liesse sich grosser Schaden anrichten, und das mit vernachlässigbarem Aufwand und ohne Fachkenntnisse.
Welche Gefahren gehen von diesen Substanzen aus?
Man hört gelegentlich den Begriff der «dirty bomb» oder der «schmutzigen Bombe» auf Deutsch. Die Gefahr eines solchen Anschlags besteht zwar, meistens wird der Begriff aber stellvertretend verwendet für radiologische Anschläge jeder Art. Die «Bombe» in der schmutzigen Bombe braucht es nicht zwingend. Es reicht, eine starke radioaktive Quelle in einem Fussballstadion zu verstecken, die vielleicht so gross ist wie ein Bleistift. Während des Spiels werden die Zuschauer in der unmittelbaren Umgebung verstrahlt, ohne dass jemand etwas davon bemerkt, bis ein paar Tage später im Unispital eine merkwürdige Häufung von Patienten mit Symptomen einer akuten Strahlenkrankheit festgestellt wird.
Wie lange bleibt der Tatort danach verseucht?
Das kommt drauf an. Glatte Flächen können besser gereinigt werden, raue Flächen sind schwer zu dekontaminieren. Möglicherweise muss die oberste Schicht Erde oder Asphalt abgetragen werden. Zudem klingt die Strahlung von selbst ab: je nach Isotop schnell oder so langsam, dass das Abklingen vernachlässigbar ist. Generell lässt sich sagen, dass das Dekontaminieren einer städtischen Umgebung sehr aufwändig ist. Die erreichte Reduktion der Strahlungsbelastung ist im Vergleich zum Aufwand bescheiden.
Dazu kommt, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger sich wenig mit der Thematik auseinandersetzen und sich deswegen schnell verunsichert fühlen. Ich kann mir gut vorstellen, dass beispielsweise ein U-Bahnhof nach einem Anschlag ein halbes Jahr lang im Betrieb stark eingeschränkt wäre. Sei es, weil Bereiche davon von den Behörden abgesperrt werden oder weil Teile der Bevölkerung der Entwarnung der Behörden misstrauen.
Was hätte eine solche Bombe für Konsequenzen für die Menschen vor Ort?
Die gesundheitliche Bedrohung von Radioaktivität wird von vielen überschätzt. Es braucht schon eine sehr hohe Strahlenexposition, damit es in kurzer Zeit gefährlich wird. Im Falle eines radiologischen Anschlags, wie oben beschrieben, würden die Behörden Massnahmen ergreifen, um die Bevölkerung zu schützen. Ein wichtiger Parameter ist der Abstand. Die Strahlung nimmt stark ab, je weiter man sich von der Strahlenquelle entfernt. Ein Tatort kann abgesperrt werden, damit niemand der Quelle gefährlich nahekommt. Ein anderer Parameter ist die Zeit. Wenn ich die Zeit limitiere, die beispielsweise Einsatzkräfte in unmittelbarer Nähe zur Strahlenquelle verbringen, so limitiere ich auch deren gesundheitliche Belastung. Aber wirtschaftlich und psychologisch wäre ein solcher Anschlag trotzdem fatal. Es wird ein Gebiet für eine gewisse Zeit unbetretbar gemacht. Wenn das beispielsweise ein Flughafen ist, so entstehen dadurch hohe wirtschaftliche Kosten. Zudem kommt ein destabilisierender Effekt: Die Bevölkerung könnte das Vertrauen in die Angaben der Behörden verlieren – umso mehr, wenn auf sozialen Medien Falschmeldungen kursieren.
Dass in Zukunft solche «herrenlose Quellen» bei uns auftauchen werden, halte ich für wahrscheinlich. Das geschieht bereits heute, allerdings häufiger unbeabsichtigt als kriminell motiviert.
Eine andere Möglichkeit wäre, Personen radioaktiv zu vergiften – so geschehen beispielsweise beim Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko, der mit Polonium getötet wurde.
Polonium ist raffiniert, weil es schwierig zu detektieren ist und sehr gezielt eingesetzt werden kann. Polonium ist ein so genannter Alphastrahler. Von diesen Strahlen geht keine direkte Gefahr aus, denn sie können zum Beispiel Haut nicht durchdringen. Gefährlich wird es, wenn ich eine Quelle einverleibe, sei es durch Atmung oder Nahrungsaufnahme. Schluckt man eine Polonium-haltige Substanz, dann ist die Wirkung verheerend. Als Alphastrahler richtet Polonium im Körper grossen Schaden an.
Für Schlagzeilen sorgte jüngst das Feuer im AKW Saporischschja. Ursache war ein Raketenbeschuss. Was haben Sie gedacht, als Sie davon gelesen haben?
Das Saporischschja ist eines der zehn grössten AKWs der Welt und das grösste in Europa. Es erzeugt etwa die sechsfache Leistung des AKWs Gösgen. Das ist sehr beunruhigend, auch wenn ich mir nicht Sorgen um einen unmittelbaren GAU gemacht habe. Solche AKWs sind extrem robust gebaut. Die Reaktorhülle muss selbst einem direkten Absturz eines Kleinflugzeuges standhalten.
Dann ist alles halb so wild?
Nicht ganz. Um ein solches AKW sicher betreiben zu können, müssen Sicherheitsprotokolle eingehalten werden. Ich schätze, es wird unmöglich sein, die Prozesse einzuhalten, wie sie angedacht sind. Ob das Personal unter der russischen Besatzung so arbeiten kann wie gewohnt, ist zumindest fraglich. Ein Teil der Notfallinfrastruktur wird nicht verfügbar sein.
Das sind Sicherheitsrisiken. Übrigens geht es nicht nur um die Reaktoren, die teilweise sicher runtergefahren wurden. Es geht auch um die Abklingbecken, in denen gebrauchte Brennstäbe gelagert werden. Auch von diesen könnte im schlimmsten Fall eine erhöhte Strahlenbelastung kommen.
Mal angenommen, es käme zu einem GAU im AKW Saporischschja. Würden wir das in der Schweiz zu spüren bekommen?
Es kommt erstmal auf das Wetter an, wie viel wir davon in der Schweiz abbekommen würden. Möglicherweise würden wir eine Zeitlang auf gewisse Nahrungsmittel wie Pilze, Wild und pflanzliche Produkte aus betroffenen Gebieten verzichten müssen. Der Einfluss auf unsere Gesundheit wäre nicht gross. Schliesslich leben die meisten von uns ja ziemlich gut, trotz Tschernobyl, trotz aller Atomwaffentests, die die Radioaktivität in unserer Umgebung erhöht haben.
Nicht nur AKWs geraten im Ukraine-Krieg in den Fokus, sondern auch die Frage nach dem Einsatz von Kernwaffen. Putin hat seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Beunruhigt Sie das?
Ich bin Fachexperte und kein Nachrichtendienstler. Erfahrungsgemäss haben Atomwaffen am meisten Wert, wenn sie als Druckmittel verwendet werden. Zurzeit halte ich einen bewusst angezettelten Atomkrieg für unwahrscheinlich. Die Gefahr eines nuklearen Schlagabtauschs aus einem Missverständnis oder einer Falschinterpretation heraus halte ich für grösser. War die Gefahr im letzten Jahrzehnt bei wenigen Wahrscheinlichkeitsprozent pro Jahr, ist sie jetzt um ein Mehrfaches höher.
Sie kennen sich mit radioaktiven Substanzen aus, weil Sie Chef einer Firma sind, die mithilfe von Detektoren radioaktive Quellen aufspürt. Wo kommen diese Detektoren zum Einsatz?
Haupteinsatzgebiete sind Seehäfen, Grenzübergänge, aber auch politische Gipfeltreffen. Zurzeit stehen Systeme am Flughafen Zürich und auf der Gotthardachse in Versuchsmessungen des Bundesamts für Gesundheit. Oft ist es so, dass radioaktive Substanzen nicht mit böser Absicht in Umlauf gebracht werden. Zum Beispiel landet radioaktives Metall immer wieder im Recycling-Prozess. Wenn dies nicht früh genug erkannt wird, kommt es beispielsweise dazu, dass der Zoll containerweise radioaktive Handtaschen beschlagnahmen muss, weil die Metallbeschläge aus radioaktivem Stahl gefertigt wurden. Solche Sachen können wir aufspüren und aus dem Verkehr ziehen.
Zur Person:
Rico Chandra studierte Physik an der ETH Zürich und promovierte am CERN in der Entwicklung von Strahlungsdetektionstechnologien. Er ist der Gründer von Arktis Radiation Detectors und arbeitet seit 15 Jahren auf dem Gebiet der Erkennung radiologischer Gefahren. In seiner beruflichen Tätigkeit hat er Aufträge für zahlreiche Sicherheits- und Verteidigungsbehörden ausgeführt, unter anderem für die US-amerikanische DARPA, die Europäische Kommission oder das Bundesamt für Bevölkerungsschutz der Schweiz.